Nachrufe

Eine Frau aus dem handwerklich geprägten Mittelstand des Sudetenlandes und ein preussischer Adliger, der als Selfmademann in Argentinien seinen Weg fand  — beide starben sie in diesem Winter nach einem langen arbeitsreichen Leben. Beide waren erfolgreiche Handwerker im besten Sinne dieses Wortes, die ihr Können in Argentinien eingebracht haben. Beide hätten es verdient, Schule zu machen, jedoch ist die Kontinuität ihrer schon eingeführten Arbeitsweisen den Eingriffen des Staates in die Wirtschaft zum Opfer gefallen. Die eingerichteten Werkstätten mussten geschlossen, die Arbeiter entlassen werden. Die von den Mitarbeitern erworbenen Fertigkeiten waren in den letzten Jahren des Jahrtausends nicht mehr rentabel und lagen seither brach bis sie vergessen wurden.

Frau Reckziegels Geschichte ist zum Teil in das Buch Vertriebene aus dem Sudetenland. Ausgewandert nach Argentinien (Nova Petrópolis, Rio Grande do Sul:  Editora Amstadt 2001) eingeflossen, das sie mit ihrem Mann zusammen verfasst hat. Sie hat auch den Anfang ihres persönlichen Werdegangs später noch eingehender aufgeschrieben; es ist zu hoffen, dass diese Memoiren nicht verloren gehen. Als Anneliese Ullmann kam sie, ein kleines Kind, im Zuge des zweiten Weltkriegs aus dem Sudetenland, in der damaligen Tschechoslowakei, zunächst nach Mecklenburg, dann, vierzehnjährig, über Thüringen und Österreich nach Argentinien. Die Familie Ullmann gehörte zu einer Gruppe von 29 Glasbläserfamilien, die in Santo Tomé, Prov. Santa Fe, dieses alte böhmische Gewerbe eingeführt und dort mit gutem Erfolg ihren Betrieb aufgebaut, und ihre Kinder und viele argentinische Glasbläser angelernt haben. Im letzten Jahrzehnt des XX Jahrhunderts hat jedoch die Einfuhr von billigem Pressglas die vierzig Jahre lang blühende Glasindustrie kaputt gemacht, die auch im Umfeld von Buenos Aires mehrere sudetendeutsche Fabriken betrieben haben. Aus einem dieser Betriebe stammte ihr Mann, Werner Reckziegel. Beide waren Kunsthandwerker von grossem Können. In der Wohnung der Reckziegels konnte man nicht nur vielerlei vielgestaltige und vielfarbige Gläser und Krüge sondern auch bunte kunstvoll geblasene Glastiere bewundern. Ein wahres Museum dieses Kunsthandwerks!

Wichtig war die Tätigkeit der Ullmanns und Reckziegels in der Sudetendeutschen Gemeinschaft. Herr Reckziegel hat nach Hubert Ullmann den Vorsitz, und Frau Reckziegel die Schriftführung dieses Vereins übernommen, bis dieser zu Ende des alten Jahrtausends seine offizielle Tätigkeit einstellte. Die Landsmannschaft in Argentinien war 1936 gegründet worden, hatte von Argentinien aus zunächst die Notleidenden in der Tschechoslowakei unterstützt, sich dann aber der Winterhilfsaktion angeschlossen, mit deren Erträgen während der Hitlerzeit, die in Argentinien mit einer langen Wirtschaftskrise übereinfiel, hier im Lande ansässigen bedürftigen Deutschstämmigen geholfen wurde. Aus den ersten Jahren des Vereins bestehen noch Festschriften, dagegen sind die Dokumente, Briefschaften und Rechnungsbücher nur von 1974 bis 1999 erhalten, seit die Familie Ullmann/Reckziegel die Führung übernahm.

Eine weitere Arbeit der Reckziegels war seit Mitte der neunziger Jahre im sozialen Bereich die Einführung von Containern aus Deutschland für Notleidende in Argentinien. Mit Hilfe der Familie Panthenius aus Minden konnte von Werner und Anneliese Reckziegel das Hilfswerk aufgebaut werden, das die Tochter Isabel Reckziegel bis jetzt fortführt: es werden Container mit Waren für wohltätige Zwecke aus Deutschland gesendet und in Argentinien an Bedürftige verteilt. Frau Reckziegel, mit ihrem schönen Lächeln, war der gute Geist der Kleiderkammer im Komplex Los Pinos, wo in den letzten Jahrzehnten die Sozialarbeit der DWG angesiedelt war. Sie starb am 19. Juli 2018.

Ernst August von Fersen ist als Pflegesohn in der Familie Bonin, einer sehr verzweigten Familie des preussischen Adels, aufgewachsen. Er hatte das Glück, sein kommunikatives Naturell und eine natürliche Vielseitigkeit in der Pflegefamilie gut entwickeln zu können. Als Halbwüchsiger kam er in die Ritterakademie in Brandenburg und später in die von Liegnitz, in denen seine sportliche Veranlagung zu ihrem Recht kam. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs nahm er die Möglichkeit wahr, die Schule vor der Prima zu verlassen und die Offizierslaufbahn von der Pike auf anzustreben. Er hat als Infanterieoffizier Ende 1941 an der Ostfront einen Durchschuss des Oberschenkels erlitten, ein Jahr später aber trotzdem wieder an der Front gekämpft, jetzt –der erworbenen Behinderung wegen– in einer Panzerdivision, die in Frankreich eingesetzt war. Brisant werden die Erinnerungen an die Kriegserlebnisse angesichts gewisser eigenmächtiger Beschlüsse, die dem Offizier u. U. teuer zu stehen hätten kommen können.

Nach Kriegsende machte von Fersen zunächst eine Ausbildung zum Landwirt, dann, da keine zu verwaltenden Ländereien verfügbar waren, eine Lehre als Schlosser und Schweisser. Jungverheiratet und mit dem ersten Sohn kam er 1952 nach Argentinien, wo schon Verwandte lebten. Er hat zunächst durch Vermittlung von Friedrich W. Schlottmann, dem Chef der Firma Sedalana, eine Stelle in Munro als Mechaniker für Färbereimaschinen bei der Firma COFIA gefunden. Er blieb in der Nordzone von Buenos Aires, wechselte von Munro aus nach zwei Jahren nach Villa Ballester über und von dort aus nach Maschwitz, wo er ein Grundstück erwerben und bebauen konnte. Dort siedelte er sich mit seiner Familie an.  Später eröffnete er in der Nachbarschaft die Firma Taminox, eine Werkstatt in der er seine soliden technischen Kenntnisse einbringen konnte. Dort wurden grosse Apparate entworfen und ausgeführt: Kessel aller Art, Schweissarbeiten, Apparaturen… Seine Memoiren aus dieser Zeit zeichnen das Bild seiner Familie, die Schulbildung der Söhne im Internat der Hölters Schule in Villa Ballester; Ferienreisen nach Villa Gesell, Córdoba und El Bolsón, und vor allem seine vielfältige Tätigkeit als Entwerfer und Ausführer von grossen Metallarbeiten. Einer der drei Söhne, Mitarbeiter in dem Betrieb, ist 1997 in Garín einem Raubüberfall zum Opfer gefallen.

Unsere bis hier weitgehend auf den Memoiren des Verstorbenen basierende Darstellung lässt freilich Wesentliches aus: von Fersens unendlich detailliertes Gedächtnis, das die Situationen seines bunten Werdegangs im Gespräch wieder und wieder lebendig aufstehen liess; seine Kommunikationsfreude, die es ermöglichte, dass er Kontakte mit den verschiedensten Menschen aufzunehmen und zu erhalten fähig war, immer interessant als Gesprächs- und Briefpartner.  Die Memoiren hören 1985 auf, ehe er seine erste Frau und den Sohn verlor. Er hat dann noch einmal geheiratet und hat seine letzten Jahre mit seiner zweiten Frau, Margrit, geb. Schüler, erst in San Isidro, dann in Villa General Belgrano in dem Altenheim Champaquí verlebt. Er starb am 8. August 2018, 97jährig, ein Mann der alten Schule, streng konservativ und doch dem Leben gegenüber offen, ein Mensch von Ehre und Rechtsempfinden.

Frau Reckziegel schenkte nach dem Tode ihres Mannes, der als Organisator seiner Landsmannschaft und in der FAAG dem Vorstand vorgesessen hat, vor vier Jahren dem Archiv Centro DIHA wichtige Dokumentation zu der Geschichte der Sudetendeutschen in Argentinien. Ernst August von Fersen hat vor fast zwei Jahren dem Archiv das vierbändige Original seiner Erinnerungen geschenkt, ein in Kopien für seine Kinder und Enkel bestimmtes Familienbuch, sehr eingehend, reich bebildert und dokumentiert mit eingeklebten Zeugnissen, Briefen und anderen Belegstücken, kostbar!

Zwei Menschen völlig unterschiedlicher Herkunft, von extrem verschiedener Erziehung, deren handwerkliche Fertigkeiten in Argentinien gesucht waren und nachgeahmt wurden, deren Geschichte aber von den Frustrationen zeugt, die die Entwicklung des Landes verursacht hat.

Regula Rohland de Langbehn